Zur Ausstellung

by gw on Februar 7, 2012

John Cage, beeinflusster Beeinflusser

Cage hat ja auch einen gewissen Charme…
– Roland Barthes in seiner Autobiografie

Glauben Sie wirklich, Sie können diese Rede halten ohne John Cage zu erwähnen?
– Alvin Lucier in seiner Bitte an Robert Ashley, an der Wesleyan University über Luciers Musik zu sprechen.

In den letzten Jahrzehnten gab es nur wenige Künstler, die so einen tief greifenden Einfluss auf die Künste ausgeübt haben wie der US-amerikanische Musiker, Autor, Bild- und Multimediakünstler John Cage (1912-1992). Darüber hinaus fügen sich seine Vorstellungen vom offenen Kunstwerk, von Indeterminismus, Transversalität, Pluralität und Interdisziplinarität gut in den jüngsten Diskurs in den Geisteswissenschaften, der die metaphysische Orientierung überwinden helfen und freiere Interpretationen ermöglichen soll. Cage studierte bildende Kunst und Musik und wurde von Joyce und Duchamp, vom modernen Tanz, fernöstlicher Philosophie und dem Denken Meister Eckharts, von Thoreau, Fuller und McLuhan beeinflusst. Er brachte es zuwege, all diese Anregungen in sein Werk aufzunehmen, das er als postmoderne Multimediakunst par excellence bereits in neue Kontexte einschleuste, als die Postmoderne noch in den Kinderschuhen steckte.

Wie kann man aus so vielen verschiedenen Zutaten einen Cocktail mixen, der nicht seltsam riecht und schmeckt? Nun ja, das liegt am Cages Charme und der Tatsache, dass seine Meisterschaft im Grunde auf der Fähigkeit beruht, scheinbar disparate Dinge mit intuitiver Cleverness im richtigen Verhältnis zu mischen. Obwohl er halsbrecherische Verbindungen herstellte, musste Cage nicht um die Ergebnisse bangen, da er sich auf die Irrationalität seiner Vorstellungswelt berufen konnte. Damit wiederum folgte  er einer schon bewährten zen-buddhistischen Methode: „Meine Einstellung zum Irrationalen und mein Glaube, dass das Irrationale für unser Leben wichtig ist, ähnelt der Technik des Koan im Zen-Buddhismus. Wir sind die normalen Regelmäßigkeiten, die wir tagtäglich sehen und verwenden, und unsere Vernunft so gewohnt, wir sind uns ihrer so sicher, dass man im Buddhismus schon vor langem einsah, dass man ihnen entfliehen müsste. Die Technik des Entfliehens besteht darin, eine Frage zu stellen, die rational unbeantwortbar ist. Die buddhistische Methode veränderte das Bewusstsein so, dass man nicht mehr einzig in der Welt der Vernunft, sondern auch in einer ganzheitlichen Welt lebte, die auch das Irrationale mit einschloss. Damit war man sozusagen erleuchtet.“(1) Auch Cage war ein Meister der richtigen Fragen. Und Fragen stellte er sein ganzes Leben lang. Er stellte sie direkt, aber auch metaphorisch, und zwar in Worten und in Kunstwerken: „Was an meiner Arbeit analysiert oder auch kritisiert werden kann, sind die Fragen, die ich stelle. Die meisten Kritiker machen sich aber nicht die Mühe herauszufinden, welche Fragen das sind. Doch nur so kämen sie dahinter, ob es nun eine Zufallskomposition ist oder nicht. Das bedeutet: Das den Ergebnissen des Zufalls unterliegende Prinzip – das ist die Frage. Wenn man kritisieren will, sollte man immer die Fragen kritisieren, die gestellt werden.“(2) John Cage stellte die Fragen an sich selbst, ans I Ging, an seine Zuhörer, Freunde, aber auch an die gesellschaftliche Situation. Kluge Fragen zu stellen war einfach der Kern seiner Persönlichkeit, seiner eklektischen Philosophie und auch seiner Lebenshaltung. Cage respektierte die Tradition und hatte zugleich ein Gefühl für künstlerische Experimente. So konnte er zu immer neuen Horizonten und Räumen aufbrechen und war damit ein entscheidender Faktor in der Konzeptualisierung und Mediatisierung der Künste. „John hat die Türen geöffnet, ich nur das Fenster um einen kleinen Spalt“, meinte einmal Morton Feldman, in dem Cage gleichsam einen perfekten Trainingspartner gefunden hatte.(3) Das legendäre 4’33″ war ebenfalls eine einzige große Frage, die Cage zur rechten Zeit und im richtigen Rahmen stellte (so wie Duchamp 40 Jahre vorher mit seinen Readymades). Das Stück kann als Milieu verstanden werden, in dem sich viele Bedeutungsebenen vermischen. Die amerikanische Experimentierfreudigkeit trifft sich nicht nur mit traditionell europäischer Kompositionsform und institutionellen Präsentation, sondern auch mit dem fernen Osten und seiner Zen-Toleranz und seiner Einfühlung in die Verbundenheit aller Prozesse und Situationen).

Doch Cage öffnete nicht nur die Tür zu neuen – oder, besser gesagt neu entdeckten – Ideen. Sein Hauptanliegen war, mit diesen Ideen Alltagsgeräusche in den hermetisch abgeschlossenen Tempel der sakralen Töne einzuschleusen. Und obwohl es ihm (durch Aleatorik und Unbestimmtheit) nicht gelang, Geräusche ihrer Bedeutungsaspekte zu berauben und sie einfach Nichts darstellen zu lassen, schaffte er es doch, Geräusche auf eine Ebene mit Tönen zu stellen und sie so in den ehrwürdigen Status von Musik zu erheben. Nie vergaß Cage dabei die soziale Dimension der Klangstrukturierung, der er sich, wie er seinem Lehrer Arnold Schönberg versprochen hatte, vollends widmete. Doch so nachdrücklich und intensiv er sich auch für die aleatorische Komposition begeisterte, so sehr scheiterte er auch daran, seinen subjektiven Anteil am Schaffensakt zu eliminieren. Anstatt in der erträumten Welt der natürlichen Absichtslosigkeit kam er paradoxerweise just in der institutionalisierten Kunstwelt an – in einer Welt voller Ideen und Absichten. Auch die haarspalterische Zen-Ausrede, er wäre eben absichtlich gescheitert, konnte ihn nicht aus diesem Dilemma befreien. Im Gegenteil: Das Scheitern zwang ihn, die Sphäre der „göttlichen Einflüsse“ auszuweiten, der die Musik seiner fernöstlichen Ansicht nach zu Dienste stehen sollte: „Komponieren ist wie einen Brief an einen Unbekannten zu schreiben. Ich höre nichts in meinem Kopf, da ist auch keine Inspiration. Es stimmt auch nicht, dass meine Musik, wie ein paar Leute gesagt haben, nicht von mir sondern von Gott geschrieben wurde, weil ich den Zufall verwende. Nehmen wir mal an, es gibt Gott: Würde er meine Musik schreiben wollen?“(4) So klang Cage in seinen Siebzigern. Obwohl er seine alten Illusionen über die moderne Kunst als Mittel zur radikalen Revolution zu verlieren begann, zweifelte er doch niemals an deren Macht, die Welt zu verändern: „Es wäre gut, wenn diese Veränderungen gewaltlos verlaufen würden. So wie Veränderungen in der Kunst. Wir wissen, dass es gewaltlose Gesellschaftsveränderungen geben kann, weil wir dasselbe aus der Kunst kennen. Wir dürfen niemals glauben, dass es Veränderungen nur durch Töten gibt. Es gibt auch Veränderungen durch Kreativität.“(5) Diese These, die auf der quasichristlichen Vorstellung der grundsätzlichen Güte des Menschen beruhte, aber auch sein tiefer Fortschrittsglaube brachten ihn also schließlich zur Theorie der Gewaltlosigkeit. Zudem trugen sie zu seiner Überzeugung bei, dass sich die Menschheit nach und nach ethisch einrenken würde, und dass Wissenschaft, Technik, Medien und Künste bei dieser zukünftigen Kultivierung eine maßgebende Rolle spielen würden.
Abgesehen von den erwähnten fernöstlichen Einflüssen war die Ethik von Cages Sozialphilosophie auch von der damals vorherrschenden grünen und globalistischen Weltauffassung geprägt: „Um mit Marshall McLuhan zu sprechen, so wissen wir ja, dass wir in einer Zeit leben, in der sich das Bewusstsein aus unserem Körper hinaus erweitert. Im selben Sinn, wie das Rad eine Erweiterung unserer Beine ist, hat die Elektronik unser zentrales Nervensystem nicht nur über den gesamten Erdball erweitert, sondern in den Weltraum hinaus. Daher sind wir moralisch verpflichtet, Erleuchtung nicht als persönliche sondern als gesellschaftliche Leistung zu begreifen. Und in dieser Hinsicht müssen wir leider feststellen: Die Welt von heute ist inakzeptabel.“(6) Der sozialkritische Aspekt des komplexen Charakters von John Cage widerspricht indes nur scheinbar seiner bewusst pragmatischen Ausrichtung und seiner Fähigkeit, auch widrige Einflüsse anzunehmen und zu nutzen. Hinter dem Wunsch die Dichotomie zwischen „akzeptabel” und „inakzeptabel“ aufzubrechen erkennt man doch Cages lebenslange Bemühung, eine philanthropisch-ökologische Synthese zu erreichen. Einige seiner Antworten auf den berühmten Fragebogen Marcel Prousts, den ihm Jacqueline Bossard 1970 vorlegte, belegen das:
Où aimeriez-vous vivre?
Wo ich gerade bin.
Votre idéal de bonheur terrestre?

Allgemein das Vorhandensein von menschlicher Intelligenz sowie die Nichtzerstörung der Natur (Ökologie).
Pour quelles fautes avez-vous le plus d’indulgence?

Meine Liebe zur Musik.” (7)

Natürlich ist seine Liebe zur Musik „verzeihlich“. Sicher war es ein großer Gewinn für die Menschheit, dass er es nicht „schaffte“, diese schlechte Gewohnheit abzulegen. Schließlich war er es, der „Musikbüchse Pandoras“ in einem Jahrhundert öffnete, das ohne ihn, wie Morton Feldman einmal meinte, deprimierend und öde gewesen wäre. Die Erkenntnis, dass „man sich um die Zukunft der Musik nicht sorgen muss“ (8), weil Klänge ewig sind – das war die Hoffnung, die man ganz unten in der Büchse finden konnte. Und die Hoffnung spricht Cage von all seinen „Sünden“ frei, die ihn seine angeborene Neugier begehen ließ.

Die Ausstellung „Membra Disjecta for John Cage“ untersucht gewisserweise, was von John Cages Vermächtnis in der Postmoderne, in der seine Ideen und Aktionen so ganz ohne Pathos wiederverwertet werden, übrig geblieben ist. Schließlich war seine Arbeit immer schon als Fundgrube und als originelle, anonyme und legitime Strategie frei zugänglich. Der Titel „Membra Disjecta“ bezieht sich damit zugleich auf Cages notorischem Schöpfen aus unterschiedlichsten Inspirationsquellen, und auf die historische, ästhetische und mediale Heterogenität der gezeigten Werke (membra disjecta oder disjecta membra heißt auf Lateinisch „versprengte Teile“ und meint normalerweise Bruchstücke von antiken Keramiken, Manuskripten oder anderen Artefakten). Der Untertitel „Wanting to Say Something About John“ ist als Paraphrase auf Cages bildnerische Hommage an Marcel Duchamp gedacht. 1969 wurde Cage nämlich nebst einigen anderen Künstlern gebeten, eine Idee zu Ehren des ein Jahr zuvor verstorbenen Duchamp beizusteuern. Daraufhin schuf er ein Multiple aus zwei Lithographien und acht Plexigrammen. Diese waren jeweils mit Zufallstexten ausgestattet, die auf Basis des chinesischen Orakelbuchs I Ging einfach generiert worden waren und dann in einem Spezialrahmen aus Holz zufällig angeordnet wurden. Cage hatte sich zuletzt entschlossen, dieses Werk nach Jasper Johns Ausspruch „I don’t want to say anything about Marcel” zu nennen.

Unter den teilnehmenden Künstlern befinden sich mehrere ehemalige Mitarbeiter Cages, aber auch jüngere Künstler, die von ihm inspiriert wurden. Gezeigt werden also sowohl bekannte Werke namhafter Künstler als auch eigens für die Schau geschaffene Arbeiten. Mit der Gegenüberstellung einer Vielzahl von Medien, angefangen von Malerei, über Zeichnungen, Drucke, Collagen, Partituren, Texten, Fotos, partiziopatorische Werke, skulpturale Objekte, Installationen, Videos, bis zu Musik- und Klangwerken, die ebenfalls mit der vielseitigen Persönlichkeit Cages korrespondieren, ist die Ausstellung ein anspruchsvolles Unterfangen. Sie ist daher in neun Abteilungen gegliedert, die nach bekannten Büchern oder Essays von Cage benannt sind: Silence, Happy New Ears!, Composition, Indeterminacy, Anarchy, Notations, Where Are We Eating? and What Are We Eating?, Where Are We Going? and What Are We Doing? sowie Writing through and Statements re. Diese Titel waren ursprünglich nicht Teil des kuratorischen Konzepts, drängten sich aber als Reaktion auf die einlangenden Beiträge auf. Die „membra disjecta“ wollten gleichsam geordnet werden, um den komplexen Ausstellungskörper besser formen zu können. Zusätzlich wurden die Teilnehmer um eine „Wortspende zu John“ gebeten, die nun gesammelt in einem Display zu sehen sind, das Cages eigenes Plexigramm-Multiple zitiert.

„Membra Disjecta for John Cage” versucht das Publikum auf eigene Art an Cages Bedeutung und seinen Einfluss auf jene „inakzeptable Welt“ von heute zu erinnern, deren aggressive und gierige Institutionen jede Idee kommerzialisieren, ohne ihren Urheber auch nur zu erwähnen. Lieber Alvin, verzeih uns, dass wir es nicht geschafft haben, „ohne John Cage zu erwähnen“.

Dank
Unser Dank gilt dem Geschäftsführer des Museumsquartiers Wien sowie dem ganzen quartier21-Team für ihre unschätzbare Hilfe, besonders an Elisabeth Hajek für ihre Begeisterung und die perfekte Koordination.
Weiters danken wir allen Fördergebern, insbesondere dem Bundesministerium für Unterricht, Kunst und Kultur sowie der Kulturabteilung der Stadt Wien, unseren Kooperationspartnern im In- und Ausland, sowie den Leihgebern und Galerien für ihre Unterstützung und ihr Vertrauen.
Besonderer Dank ergeht an Laura Kuhn, Leiterin des John Cage Trust in New York, für die Leihgabe von Not Wanting to Say Anything About Marcel von John Cage. Wir freuen uns sehr, dieses Werk zeigen zu können!
Besonderer Dank auch an die Galerie výtvarného umění v Ostravě für die Publikation des Ausstellungskatalogs.
Weiters sind wir der Buchhandlung Walther König (Andreas Wigand und Team) für die Besorgung der TONSPUR-Bibliothek mit speziellem Fokus auf die Literatur von und über John Cage und der teilnehmenden Künstler zu Dank verpflichtet.
Zu guter Letzt bedanken wir uns aufrichtig bei allen Künstlern für ihre wunderbaren Werke und persönlichen Statements. Sie machten diesen seit langem geplanten Tribut anlässlich des 100. Geburtstags eines der Größten der Kunstwelt erst möglich.

Jozef Cseres – Georg Weckwerth
Kuratoren

Anmerkungen:
(1) Richard Kostelanetz: Conversing With Cage. Omnibus Press, London/New York/Sydney 1989, S. 267 (Neuübersetzung).
(2) Ebd., S. 85 (Neuübersetzung).
(3) Peter Gena und Morton Feldman: H. C. E. (Here Comes Everybody). In: Gena, P., Brent, J. und D. Gillespie (Hg.), A John Cage Reader in celebration of his 70th birthday, C. F. Peters Corporation, New York/London/Frankfurt 1982, S. 57 (Neuübersetzung).
(4) Richard Kostelanetz: Conversing With Cage. Omnibus Press, London/New York/Sydney 1989, S. 74 (Neuübersetzung).
(5) Ebd., S. 263 (Neuübersetzung).
(6) Ebd., S. 267f. (Neuübersetzung).
(7) Ebd., S. 285 (Neuübersetzung).
(8) John Cage: Silence. Wesleyan UP, Middletown 1973, S. 8.

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